Der stille (Hilfe-)Ruf einer muslimischen Frau aus Marburg

Nach einem langen, grauen Winter ist es ein sonniger Tag, der das Gemüt durch die Sonnenstrahlen aufhellt.

Ein sonniger Tag, der düster werden wird.

Eine junge Frau steht unter einem betonierten Dach, wartet vor einem verglasten Gebäude darauf, dass sie das Gebäude betreten darf. Sie sieht nachdenklich aus. Lässt sie den bisherigen Tag Revue passieren? Wahrscheinlich. Die Tür geht auf, ein unbekannter Mann tritt aus dem Gebäude und sieht die wartende Frau an und schreit: „Adolf Hitler!“

Verwunderlich, dass die Frau nicht reagiert. Aber auch sonst scheint die Äußerung niemand wahrzunehmen. Er tritt auf sie zu und sagt: „Das muslimische Pack gehört vergast!“

Wieder keine Reaktion. Als der Mann sein einseitiges Gespräch beendet, geht er zügigen Schrittes davon.

Da beginnt sich die junge Frau zu regen. Ihr Körper bleibt steif, den Kopf neigt sie in seine Wegrichtung. Es wirkt, als beobachte sie den Mann. Als schaue sie, wohin er gehe. Ihre Finger umschließen ihre Handtasche. Sie drückt sie schützend an ihren Körper, um an Halt zu gewinnen. Dort ist der einzige Gegenstand, der in dieser Situation helfen könnte: ihr Smartphone. Sie scheint darüber nachzudenken, den Notruf zu wählen, sobald sie weiß, in welche Richtung der Mann geht. Doch er scheint den Blick in seinem Rücken zu spüren.

Er dreht sich um und merkt, dass er unter Beobachtung steht. Wütend, fast schnaubend macht er kehrt und geht zügigen, entschlossenen Schrittes auf sie zu. Es wirkt, als wolle er ihr Angst machen, sie einschüchtern. Als wolle er sie bedrohen.

Er schließt an seine vorangegangene Bemerkung an und sagt: „Ich meine dich, du Scheiß-Kopftuch!“

Keine Reaktion. Weder die Frau rührt sich – noch Menschen in ihrem Umfeld.

Der Mann schlägt einen schützenden Weg ein; er geht die Wendetreppe hoch und überquert die Brücke. Es ist ein Weg, der eine Beobachtung nicht zulässt. Weg ist er.

Jetzt scheint die Frau sich zu regen. Ihre Knie scheinen nachzugeben, ihr Oberkörper beginnt leicht zu zittern, sie scheint Angst zu haben. Sie mag sich womöglich trotz der Menschenmenge allein zu fühlen. Sie scheint tatsächlich allein zu sein, auf sich gestellt.

Sie fragt sich, ob sie jemanden um Hilfe bitten möchte, aber niemand scheint ihr helfen zu wollen. Was soll sie tun? Was kann sie tun? Sie lässt ihre verworrenen Gefühle zu. Für einen kurzen Moment ist eine tiefe Traurigkeit auf ihrem Gesicht zu erkennen. Eine Träne läuft ihr übers Gesicht. Sie verschließt die Augen, bedeckt sie schützend mit ihren Fingern. Eine Sekunde vergeht, eine weitere. Sie atmet tief ein, richtet ihr Haupt und geht davon.

Es ist die Geschichte eines Mannes, der sich sicher und unbeobachtet fühlt. Es ist die Geschichte eines Mannes, die gerade deshalb womöglich eine Fortsetzung haben wird.

Es ist gleichzeitig die Geschichte einer Frau, die alltäglicher Gefahr ausgesetzt ist. Eine Frau, die sich lediglich nach Sicherheit sehnt.

Alltagsrealitäten führen zu Unsicherheitsempfinden bei Betroffenen. Breche dein Schweigen! Zeige im Alltag Zivilcourage und erhebe deine Stimme gegen Rassismus!*

*Achte darauf, dass du dich keiner Gefahr aussetzt. Im Zweifelsfall weitere Hilfe holen.