Eine muslimische Frau berichtet retrospektiv über ihre bittere Erfahrung als Erstklässlerin an einer Grundschule in Marburg.

Es sind die 90er Jahre. Ein muslimisches Mädchen flüchtet mit ihren Eltern und Geschwistern nach Deutschland. Sie beginnt, eine Grundschule in Marburg zu besuchen. Sie ist in der ersten Klasse, als sie von ihrem Mitschüler gefragt wird: „Glaubst du an Allah oder an Gott?“ Das Mädchen denkt über die Frage nach und antwortet: „Ich glaube an Allah.“ Plötzlich wird sie vom siebenjährigen Mitschüler angespuckt. Sie versteht nicht, warum der Mitschüler sie angespuckt hat. Sie hat Angst, etwas Falsches gesagt zu haben. Denn sie kann es nicht einschätzen, ob sie sich sprachlich korrekt ausgedrückt hat. Sie beherrscht die deutsche Sprache noch nicht so gut wie die anderen Kinder aus ihrer Klasse. Sie fürchtet sich und möchte sich an die Lehrerin wenden, doch sie weiß nicht, wie sie ihr in der deutschen Sprache erzählen kann, was ihr widerfahren ist. Ihre Unsicherheit, die Lehrerin anzusprechen, wird dadurch verstärkt, dass sie oft das Gefühl hat, die Lehrerin sei netter zu den anderen Kindern als zu ihr. Sie fühlt sich durch diesen Gedanken noch unsicherer. Sie versteht nicht, wo sie sich stattdessen hinwenden kann, um Hilfe zu erhalten. Sie ist verzweifelt. Sie sehnt sich danach, mit jemandem über ihre Erfahrung und Angst zu sprechen…

Das muslimische Mädchen ist inzwischen erwachsen und fragt sich heute noch, was diesen siebenjährigen Jungen dazu bewegt hat, sie anzuspucken. Sie fragt sich, ob es Hass gewesen sein könnte. Wusste der Junge, was der Unterschied zwischen Gott und Allah war? Gab es einen Unterschied? Oder wurde ihm ein Weltbild vermittelt, dass Menschen, die an Allah glauben, keine guten Menschen sind?

Heute sagt sie: „Ich glaube, die Kinder lernen von den Erwachsenen. Und die Erwachsenen wissen halt einfach zu wenig über den Islam.“

Muslimische Kinder machen sehr früh Diskriminierungserfahrungen. Mit diesen Erfahrungen sind sie meist jahrelang auf sich allein gestellt, weil ihnen selten bis nie Raum geboten wird, über rassistische Diskriminierungserfahrungen zu sprechen. Die verschiedenen Gewaltformen, die die Betroffenen erfahren, schlagen sich in ihren Lebensbiografien nieder. Deshalb ist es absolut notwendig, auf Rassismuserfahrungen im schulischen Bereich (auch in der Grundschule!) aufmerksam zu machen und vertrauensvolle Räume für Betroffene zu schaffen, in denen sie ihre Erfahrungen ausdrücken und Hilfe erhalten können.